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Archiv für den Monat: Oktober 2018

FRANÇOISE ET MOI

Der Junge, das bin ich. Er sitzt vor einem Fernseher, schwarz/weiß wie der ganze Clip, nur bekleidet mit einer Pyjamahose, und er bewundert im Halbdunkel diese enigmatische Sängerin, die auf dem Bildschirm mal als junges Mädchen, dann als ältere, aber nicht gealterte Frau erscheint. Er schläft auf ihren alten Fotos, sie nimmt ihn an der Hand, wie stets im schwarzen Smoking von Yves Saint Laurent, und erzählt davon dass keine Träne ihr die Luft wird nehmen können und alles gut werden wird, wenn sie das Weite suchen und einfach davonsegeln wird, quand je prendrais le Large. François Ozon hat das inszeniert, und Le Large, ein weiteres erratisches Lied, ist die vorläufig letzte Single von Françoise Hardy, der mysteriösesten, entrücktesten Legende des französischen Chanson. Es stammt aus dem Frühsommer diesen Jahres, und der Junge im Video, das bin eigentlich ich, wie gesagt.

Françoise Hardy hat alles verzaubert, was in meiner späten Kindheit oder frühen Jugend in der Pariser Banlieu mit Hilfe einer Tonspur hätte verzaubert und damit erhöht werden können – Soundtrack of my life. Mit einer Stimme wie ein Zauberstab, und einer Erscheinung wie diese älteren Mädchen auf dem Pausenhof sie nunmal hatten, deren unfassbar langen Beine einen nur ganz kurz von dem Gesicht mit den traurigen Augen ablenken konnten, in denen man amouröses Unglück vermuten durfte, aber was hätte man schon machen können? Mit zehn Jahren die schwachen Muskeln spielen lassen, um als imaginierter großer Bruder bei solchen Fabelwesen die eigenen Chancen zu erhöhen? (Welche genau, außer Eindruck machen, und sich selbst dabei lächerlich? – sie hätte es wohl niedlich gefunden, höchstens.)

Ihr erstes Lied schrieb sie noch vor meiner Geburt, und schon in Tous les garçons et les filles war sie kein Teil der restlichen Welt, in der Jungen und Mädchen Hand in Hand und Auge in Auge Pläne für die Zukunft hatten, während sie selbst mit beschädigter Seele allein in den Strassen wie ein geprügelter Hund lief, keinen an ihrer Seite, der ihr „Je t’aime“ ins Ohr hätte hauchen können. Es kann auch ein Fluch sein, so schön zu singen und zu sein. (Wie gesagt, ich war noch nicht geboren worden. Ich hätte es sonst womöglich versucht.)

Tombé du ciel sei Personne d’autre, das neue Album, vom Himmel gefallen, das sagt sie selbst, und genauso fiel es auch in meinen Schoß, durch einen Zufall. Der letzte Kontakt war 2006 Parenthèses, ein Album ausschliesslich mit Duetten an der Seite von Kollegen und Schauspielern, das im Büro und im Auto in Dauerschleife lief. Sie wollte dann keine Musik mehr machen, nach schwerer Krankheit und auch sonst nicht, und lieber ihre Bücher schreiben. Ich habe sie aus den Augen verloren, für viele Jahre.

Aber dann waren die Lieder eben da, wurden mehr und mussten raus. Daraus ist ein so scharf geschliffenes Juwel geworden, dass man es nur mit Handschuhen anfassen sollte; Melodien wurden ihr geschenkt, und wenn diese sie ausreichend verfolgt haben, hat sie einen ihrer so sprachverspielten Texte dazu geschrieben. Mit der Ausnahme von You’re my home, da gab es den Titel schon, und auch den Text, den sie so schön und unübersetzbar fand, dass sie zum ersten Mal seit Jahren auf englisch gesungen hat (das andere Lied ist hier). Was fast noch bezaubernder ist als auf französisch.

Der Trick ist die Scheu. Die Zurückhaltung, die Diskretion, der Abstand. Nicht mit der Tür ins Haus zu fallen (weshalb da immer eine Tür bleiben wird). Françoise Hardy zu duzen verbietet sich quasi von selbst, vor großem Publikum ist sie seit 1968 nicht mehr aufgetreten, Grund ist ihr legendäres, scheinbar unüberwindbares Lampenfieber. Dagegen der ganze YéYé-Schrott aus dieser Zeit, früher war nämlich auch schon nicht alles besser: Eine Brigitte Bardot, die sich mit Duckface-Lippen halbnackt auf der Harley räkelt und Zeilen von sich gibt, die schon vergessen sind bevor das Echo verklungen ist. (Aber die ist ja auch der Meinung, dass man streunende Hunde retten soll, Ausländer dagegen nicht.)

Oder, mit Blick auf die eigenen, seltsam kalt gewordenen Füße: eine Helene Fischer, mit ihren perfiden, verlogenen Durchhalte-Parolen, die sich an die Mutlosen richten, die nie für die Liebe etwas riskiert haben und sich nun den billigen Trost von PR-Profis abholen, angetreten um sich auf dem Rücken dieser traurig alltagszermürbten Zombies die Taschen vollzumachen. Hier soll man sich’s bequem machen in einem selbstgebauten Gefängnis, statt den Schlüssel zur Flucht zu suchen oder besser gleich die Abrissbirne. Schlager kommt offenbar doch von schlagen; Chanson erzählt was anderes: von Liebe und vom Gestern, vom Tod aber nicht vom Teufel.

Madame Hardy hingegen: von der Plattenfirma gebeten, die etwas flache Brust mit Stoff oder Papier auszustopfen, um mehr Sex in die Chose zu bringen: abgelehnt und fertig. Inspiré, pas fabriqué, wollte sie es haben, bis auf wenige Kompromisse in jungen Jahren ist sie auch dabei geblieben. Die Texte, mit einer seltsamen Fülle an Todessehnsucht: wenn von Abschied die Rede ist, gibt man sich nicht die Hand und au revoir, sondern wacht zum letzten Mal an einem anderen Ufer, ohne dass es einen Morgen geben wird, sans pouvoir te dire „a demain“. Rosen, die sterben, Fahrten ohne Wiederkehr, der Staub, der wir Morgen schon sein werden. Poésie? Mais oui.

Und dann ein solches Meisterwerk wie Tant de belle choses, eine der schillernsten Perlen des französischen Liedes, die mit Zartheit und Wahrhaftigkeit um Jahrhunderte alles überdauern wird, was die hässlichen Fratzen der französischen Realität alternativ gerade so zu bieten haben – fick Dich hart weg, Marine Le Pen! L‘Amour est plus fort que la mort.

Jahrzehnte später wird sie immer noch kultisch verehrt von Millionen Franzosen, die ihre gesamte Liebesbiografie als Abfolge ihrer Lieder begreifen und sich zu hunderten nostalgisch, sehr privat oder auch gleich mit fliessenden Tränen in den YouTube Kommentaren verewigen, als wäre es ein Kondolenzbuch. Alle erzählen von Toten, die unvergessen, und Zeiten, die unwiederbringlich sind. Und alle halten sich fest an ihren eigenen Ikonen, von Mon amie la rose bis Message Personnel (zu dem offenbar halb Frankreich das erste Mal gefummelt hat) – Françoise Hardy hat sich aufgelöst in ihrem Publikum und ist ein Teil all dieser Leben geworden. Kurios, wie lang ich dachte damit allein zu sein, ein kleiner Junge mit Pyjamahose, in schwarz/weiss. Wie alle anderen eben auch.

Im Januar wird sie 75. Ich muss mich langsam beeilen, wenn ich den Brief dazu noch fertig kriegen will, in fabulösem französisch, wenn es bitte geht. Wobei: natürlich kann sie auch deutsch, Frag den Abendwind in Radio-Dauerschleife, und schon waren alle Deutschen ebenfalls verliebt, auch wenn sie es mit einem  Schlager verwechselt haben, was dann wohl doch an der Sprache liegt.

Ach, im Grunde reichen auch vier Worte: Je vous remercie, Madame. Rendez-vous dans une autre vie!