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Archiv für den Monat: Mai 2021

OFFICE CHART FRÜHLING

Was wir in diesen Wochen im Büro hören

Jonny Greenwood – Phantom Thread (early)

Es ist nicht ganz klar, wer hinter Daniel Stashkin steckt. Sein YouTube Channel veröffentlicht so viele seltene, abseitige und inoffizielle Teile und Teilchen aus dem Radiohead-Universum, dass regelmäßig spekuliert wird, es handle sich in Wahrheit um ein Bandmitglied oder zumindest um den Produzenten Nigel Godrich, oder um alle gleichzeitig oder auch alle abwechselnd – irgendeiner aus dem Raum mit den herumliegenden Magnetbändern jedenfalls. Frühe Versionen, rumpelnde Krachorgien aus dem Übungsraum oder versunkene Solo-Perlen aus den abgelegensten Konzertorten des Planeten sind ebenso dabei wie beispielsweise ein alter zweiminütiger Wortbeitrag von Thom Yorke im Backstagebereich eines japanischen Konzerts, der auf gruselige Art zeigt, dass ihm auch leicht das Schicksal eines Kurt Cobain hätte blühen können (I will).

Dabei ist alles, was es hier zu sehen und zu hören gibt, angeblich vorher schon mal im Netz aufgetaucht, aber Stashkin hat es an einer Stelle versammelt und hübsch zurechtkuratiert, was damit so Nerd-allergischen Gestalten wie mir die stupide Perlentaucherei erspart. Ein gutes Dutzend Karma-Punkte sind ihm damit sicher. Auch Phantom Thread (early) war davor schon zu finden, aber nur auf den Extras der DVD zu Paul Thomas Andersons herzzerreissendem Film, und es ergänzt Greenwoods famosen Soundtrack um erste Aufnahmen, Übungen, Etüden – alles etwas rauher, verspielter, tastender, und noch ohne das Royal Philharmonic Orchestra, das sich aber schon im Nebenraum warm zu spielen scheint. Man spürt förmlich die Suche des Komponisten nach dem wahren Ton, dem richtigen Tempo, dem perfekten Anschlag. Alles mühelos und fliessend, als fläzte man mit Ravel und Debussy auf dem selben Sofa. Greenwoods vollkommen der Zeit entschwebtes Klavier funktioniert auch in diesem nur 17minütigen Fragment nach dem Aufwachen genauso wie kurz vorm Schlafengehen. Und erst recht, wenn Frühstück und Abendessen zeitlich mal die Plätze tauschen sollten.

Außerdem läuft:

Kitschkrieg feat. Peter Fox und Trettmann  – Lambo Lambo

DJ Hell – Black Disney @ Folklor Club Lausanne 2020 (3-Stunden-Stream)

Gesaffelstein – Pursuit

Thomas Fehlmann – Abgestellt

Slowthai feat. James Blake und Mount Kimbie – Feel away

Kate Tempest – I’m your Man (Leonard Cohen Cover) live

Mount Kimbie – Carbonated

Jamie XX – All under one roof raving

My Bloody Valentine – Only Shallow (remastered)

Haiyti feat. Kitschkrieg – Ein Messer

Yung Hurn/Love Hotel Band – Diamant

Yung Hurn – Gefühle an dich in einer Altbauwohnung (Part 2)

Marteria & DJ Koze – Paradise Delay

Kummer – Bei Dir

Led Zeppelin – Kashmir (Live from Celebration Day 2012)

Radiohead – The Headmaster Ritual/Ceremony/Unravel (The Smiths/New Order/Björk – Cover)

Jacques Brel – Voir un ami pleurer

Die Links führen in der Regel zu sehenswerten Videos auf vimeo oder youtube und gehen in einem neuen Fenster auf.

 

CONTAINER I/2021

In den Container wandern alle kleinen Begeisterungen der vergangenen Wochen

Neue Sachlichkeit (3)  „Da sieht man dann einen Schuhkarton, in dem eine Säuglingsleiche liegt. Dann kommt eine Fliege und setzt sich auf das Gesicht. Dieses Kommen und Gehen: faszinierend.“ Gerhard Polt über seine Kindheit

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Mont Saint Michel  Das erste Mal dass ich einen Erwachsenen Rotz und Wasser heulen sah, war am Mont Saint Michel in der Normandie. Die Zufahrt mit dem Auto zum Meereskloster war bei starken Gezeiten gesperrt, weil das steigende Wasser die Fahrbahn überflutete, man musste also rechtzeitig das Weite suchen. Der Mann, der weinte, war mit seinem Wagen unter der Brücke steckengeblieben und sah nun hilflos zu, wie sich in Zeitlupe das Salzwasser über die Ledersitze seines fabrikneuen Range Rovers ergoss. Die Tränen aus seinen Augen und das Sekret aus seiner Nase tropften dabei auf seinen Kamelhaarmantel, ich stand oben auf der Brücke, sah dem Nervenbündel aufmerksam zu und war etwa sechs Jahre alt. Ich war mir sicher, dass er Italiener war.

Mit der Würde dieser magnetischen Orte war es nie weit her, das gilt auch für Venedig oder den Taj Mahal. Die Sehnsucht nach ihrem Zauber verfliegt bei der Anreise sehr schnell, wenn man realisieren muss, dass eine gefühlte Million Menschen im selben Moment den gleichen Einfall hatten. Dass ausgerechnet eine Seuche ihnen diese Würde jetzt zurückschenkt, sieht man an diesem barocken Drohnen-Video, das im ersten Lockdown vor genau einem Jahr am Mont Saint Michel entstanden ist. Wenn statt eines endlosen Touristenstroms nur gelegentlich ein Vogel am heiligen Hügel aufsteigt und die gespenstischen Gassen aussehen wie aus einem Hollywood-Seuchenfilm, kehrt auch die Erhabenheit zurück, die so lange verschüttet war. Man musste einfach nur alle Menschen aus dem Bild nehmen.

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Spieltrieb  Ein Jahr ist es auch her, dass mir die Meldung gefallen hatte, die Firma Playmobil habe schnell umdisponiert und stelle jetzt eigene „Nase-Mund-Masken“ her. Als Filter konnte man „handelsübliche Papier-taschentücher“ einlegen, wovon auch gleich eine Gratis-Packung beigelegt sei – aus heutiger Sicht ein seltsam altertümlicher Lösungsansatz, ähnlich der Empfehlung, man solle zur Vermeidung eines Hausbrands einen Eimer Wasser in den Flur stellen. Dass damals ausgerechnet eine Spielzeugfirma schneller war als das überforderte Gesundheitsministerium, hat mich allerdings amüsiert, genauso wie das Darth-Vader-Design, das ich lizenztechnisch eher bei LEGO vermutet hatte, und von dem man annehmen durfte, dass es kein Erwachsener jemals ernsthaft tragen würde. Tat dann auch keiner, ich habe bis heute noch nie jemanden mit dieser Maske herumlaufen sehen. Aus dem Playmobil-Shop ist sie auch schon längst wieder verschwunden.

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Der Junge mit dem Edding (2)  Er nun wieder: mit dem schwarzen Filzstift als Privatknarre und Kommentier-Werkzeug in stets greifbarer Nähe, nutzt der Sohn den ausgelöffelten 99-Cent-Becher mit der Instant-Ramen-Suppe, um mir damit einen hübsch dekorierten Kaffee auf die Terrasse zu stellen. Auf mein Fragezeichen zur verkehrten Beschriftung auf der Rückseite sagt er nur: „Bei Starbucks schreiben sie die Namen immer falsch, das gehört so.“ Dass das stimmt, kann man mit diesem Blog leicht überprüfen, auf dem man interaktiv die seltsamsten Missverständnisse auf die Frage nach dem eigenen Namen nachschlagen kann („can i get a name for your order?“). Den von den meisten Kunden offenbar geschätzten Marketing-Bullshit global agierender Milliarden-Konzerne, mit eingefrorenem Lächeln ranschmeißerisch einen auf dufte zu machen, habe ich mir schon bei der Deutschen Telekom verbeten, als die plötzlich anfingen, mich im Schriftverkehr zu duzen. Dass ich auf das simple Ordern eines doppelten Espresso auch noch fünf präzisierende Nachfragen beantworten musste, hätte es bei meinem bisher einzigen Starbucks-Besuch in einer französischen Hafenstadt gar nicht mehr gebraucht, um den Kaffee in Zukunft nur noch in der Pinte nebenan zu trinken. Ging deutlich schneller, wurde mit indifferenter Laune erledigt, und meinen Namen wollte auch keiner wissen.

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Der immer noch traurigste Aufkleber auf deutschen Plakatwänden  >>

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Slowed  Irritiert und begeistert zugleich hat mich diese neue Tik-Tok-Mode unter Jugendlichen, bekannte Musikstücke „slowed“ zu hören, also in einer verlangsamten Version ihrer selbst. Sie laufen dann nur noch in 50 bis 80-prozentiger Geschwindigkeit, mit allen seltsamen Audioeffekten die das mit sich bringt. An den Stücken selbst wird nichts verändert, die entsprechenden Seiten auf YouTube vibrieren sozusagen gerade in Zeitlupe. Faktor Irritation: welcher rätselhaften Sehnsucht ist das geschuldet, dass man einen Gang runterschalten will und dafür die Werke anderer, die mutmasslich bei der Entstehung mit erheblicher Energie aufgeladen wurden, ohne zu zögern aufs preiswerteste herunterpitcht, statt etwas Neues zu entwerfen? Faktor Begeisterung: Power to the People! Wie man den Kommentaren unter den Videos entnehmen kann, gibt es in dieser Altersklasse nach wie vor ein geradezu pandemisches Bedürfnis nach Traurigkeit. Wenn die eigenen Lieblingslieder den Soundtrack dazu nicht vollständig liefern können, muss man halt selbst an die Regler, und was nicht leiert, wird leiernd gemacht. Sehr gelacht habe ich über eine slowed-Version von Bon Iver: ich dachte, die kann man auf keinen Fall mehr entschleunigen. Aber acht zwölf Millionen Aufrufe erzählen etwas anderes.

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Sonntagsblues  Mit ambivalenter Wucht hat mich ein knapp fünfminütiges Video getroffen, dass nur mit Musik unterlegt ein paar Filmszenen von Kubrick und Tarkovsky kommentarlos nebeneinander stellt. Stanley Kubrick, mit seiner technokratisch-unterkühlen Kunstaura gerne als linke Gehirnhälfte des Kinos bezeichnet, neben Andrei Tarkovsky, der mit seiner sowjetisch-emotionalen Aufladung die rechte Hälfte repräsentieren könnte. Das funktioniert fabelhaft, wenn Jack Nicholson in Shining durchs vollbesetzte Overlook-Hotel marschiert, während Oleg Yankovsky in Nostalghia allein mit brennender Kerze das leere Thermalbecken durchquert. Aber wenn der verzweifelte Barry Lindon neben dem weinenden Kind aus Iwans Kindheit zusammenbricht, und die Soldaten auf dem brennenden Schlachtfeld von Full Metal Jacket neben das flammende Haus in Der Spiegel gestellt werden, wachsen zwei Gehirnhälftn auch wieder zusammen und es geht nur noch um verwandte Seelen, nicht um ein dubioses Wettrennen konkurrierender Weltbilder. Ambivalent ist dabei, dass man sich als Unterhaltungsregisseur eingestehen muss, dass einen eigentlich nichts daran hindert, überflüssige Plot- und Dialogdekorationen zu streichen, den bebilderten Hörfunk sein zu lassen und nur der Schönheit den Vortritt zu geben – kein Gramm Fett mehr, nur Filet. So erging an einem verregneten Wochenende folgerichtig auch die traurige Notiz an mich selbst: „Show, don’t tell. Nicht wieder vergessen.“

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Neue Sachlichkeit (4)  „The brutality and low acting skills are unfortunate, but as a vision of the future and the relation between man and his destiny, the film is pushing the frontier of cinema as an art.“ Andrei Tarkovsky über James Cameron’s Terminator (1984)

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Haarmetall  Eddie van Halen ist tot, ich glaube das konnte man sogar durch die geschlossenen Fensterscheiben hören. Im Prinzip wäre mir die Nachricht aus dem letzten Jahr auch gleichgültig gewesen, aber Van Halen war mein erstes Konzert überhaupt, im Alter von 15 Jahren im Pariser Palais des Sports, und es passte eigentlich überhaupt nicht zum damaligen Mindset, wie man das heute nennen würde, das hauptsächlich aus einer hippiehaften Aura der Selbstgenügsamkeit bestand, und das mit diesem durchtrainierten Hair-Metal-State-of-Mind so ziemlich gar nichts am Hut hatte. Und trotzdem: das war heiss, aber nicht fettig. Und wo the fuck war nochmal die Scheiss-Eintrittskarte, die hatte ich doch aufgehoben? Jetzt ist sie wieder aufgetaucht, im dafür vorgesehenen Schuhkarton, was für eine kleine Begeisterung an dieser Stelle reichen muss, trotz anderer unerklärlicher Verluste, wie dem Hüsker Dü Ticket aus den Achtzigern, dem zum wegen Lebensmittelvergiftung von Morrissey abgesagten Smiths-Konzert oder dem letzten Nirvana-Auftritt überhaupt, im alten Münchner Flughafen. Was von Van Halen in Erinnerung blieb: Ein David Lee Roth in einem hautengen pinken Anzug mit weissen Fellstiefeln, der von einem Marshall-Boxenturm zum anderen dem Gitarristen Eddie die Jack Daniels Flasche zuwarf. „Seltsame Zeiten“, sagt der Sohn, als er das entsprechende Google-Foto sieht. Indeed.

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Neue Sachlichkeit (5)  „I tell everybody, if you want to run for office some day and have an incredible fundraising event, marry a musician about 15-20 years before you declare your candidacy“. Mary Mancini, Vorsitzende der Democratic Party in Tennessee, über ihren Mann, Lambchop-Sänger Kurt Wagner.