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OFFICE CHART HERBST/WINTER

Was wir in diesen Wochen im Büro hören

Akuratyde – Home Movies

Worin liegt Trost? In der Musik, klar, vielleicht auch noch in dem alten Porsche, den man sich möglicherweise von der Lebensversicherung der verstorbenen Eltern gekauft hat, oder er liegt in diesen Salsiccia aus dem Ofen, mit Linsen und Brokkoli, nach einem langen Winterspaziergang. Aber in welcher Musik genau? In der neuesten Entdeckung oder vielmehr in der, die man schon lange kennt, oder die zumindest danach klingt, man weiß noch nicht mal wieso, wo sie doch neu ist, und absolut von heute? Vielleicht liegt der meiste Trost in der, die beides bedienen kann, so wie Home Movies, hier im kostenlosen Stream auf SoundCloud, ich wusste ja noch nicht mal, dass es Drum ’n‘ Bass noch gibt. So wie damals in den Neunzigern, wohin mich Akuratyde gerade zurückschickt, mit den verknäulten Beats, luftigen Synthies und steil eingebauten Stimmen als Schmiermittel zwischen den Epochen. Und der damit Bilder, Begegnungen und Räusche wieder hervorspült, von denen er gar nichts wissen kann – Zauber der Popmusik.

Würde ich das Bürofenster öffnen und den Sound in den Waldsaum entlassen, würde die Schneedecke wohl in Windeseile wegschmelzen, was schade wäre, wo doch die Tochter noch mit mir raus will in den Winterwald, um beim Spazieren gerne dies und jenes zu besprechen, auch Neuigkeiten über den Liebesstatus, und danach gibt es Salsiccia aus dem Ofen, mit Linsen und Brokkoli. Ich weiss auch schon, welche Musik dazu laufen wird: Nichts ist naheliegender, als gleich wieder auf Play zu drücken.                                             PS: Akuratyde ist übrigens ein junger Kalifornier mit Bart, Hornbrille und schwarzem Irokesen. Er war bis vor kurzem schwer geprüft von familiären Verlusten, kam wieder an Bord und schrieb dann seine bisher zwei Alben. Künstlerkarrieren: immer wieder verrätselte Wege, für die keine brauchbare Strassenkarte zu finden ist.

Außerdem läuft:

Akuratyde – BMTM Guest Mix 2021 (einstündiger Stream)

Tocotronic – Ich tauche auf (feat. Soap & Skin)

Birds on a Wire – Wish You Were Here

Françoise Hardy – My Beautiful Demon (featuring Ben Christophers)

John Barry – The Cotton Club

REM – Bang and Blame

Queen Latifah – Poetry Man

mind&machines – Revived

Pantha Du Prince – Mondholz – Jupiters Delight (Remix after Überbach)

Willie Nelson – Baby It’s Cold Outside (featuring Norah Jones)

Mazzy Star – Ride it On

The Slow Show – Anybody Else Inside

Jan Garbarek – Ice Burn

Gisbert zu Knyphausen – Melancholie

Trent Reznor & Atticus Ross – The Gentle Hum of Anxiety

The Go-Betweens – Finding You

Die Selektion – Dein Herz wiegt tausend Scherben

Aphex Twin – Curtains

Benjamin Biolay – Borges Futbol Club

The Smile – You Will Never Work In Television Again

Die Links führen in der Regel zu sehenswerten Videos auf vimeo oder youtube und gehen in einem neuen Fenster auf.

 

OFFICE CHART SOMMER

Was wir in diesen Wochen im Büro hören

Sleaford Mods – Spare Ribs

Im Prinzip sowas wie die britischen Deichkind, ums mal ein bisschen zu kurz zu machen. Casio-Melodien aus dem Geist des Punk, simpel aber nicht stumpf, und lustig-aggressive Anklagen mit schwerem Akzent, die erzählen wie kacke krank alle sind, insbesondere Boris Johnson. Dazu trägt man alberne Beinkleider, Jason Williamson sprechsingt hinab in die Kamera, Andrew Fearn wackelt stumm ein bisschen mit dem Oberkörper und spielt auf dem aufgeklappten Laptop seine Musik ab, die von nichts anderem kommen kann, als von eben diesem Laptop (guter Einstieg: Nudge It feat. Amy Taylor). „Electro-Punks“ nennt man sie dafür in deutschen Kultursendungen, allerdings sind beide Herren über Fünfzig. „Sleafords have actually come up with something that’s a good formula. You know, they’re a band with Old Men“, sagt ihr Manager in der schönen Sleafords-Doku A Bunch of Kunst von Christine Franz.

Autor Ralf Husmann hatte bei der Entstehung von Merz gegen Merz einigermassen selbstironisch den „Club der Fünfzigjährigen, die noch nicht aufgegeben haben“ ausgerufen, unsere Musikberaterin und Ladomat-Labelgründerin Charlotte Goltermann war ebenso dabei wie ihr Mann Sven Regener und wir, ein nicht unerheblicher Rest der Truppe. Unausgesprochenes Ziel war, dass fortschreitendes Alter zu mehr führen sollte, als seine Bluthochdruckpillen einfach nur mit besserem Scotch hinunter zu spülen. Im Prinzip sind die Sleafords so die Band der Stunde, wenn sie das nicht schon seit Jahren wären, aber man muss ja zwischendurch auch woanders hinhören, sonst bluten einem bald die Ohren von diesem East Midlands Slang (Mork n Mindy feat. Billy Nomates). Das ganze Sleaford Ding ist übrigens eine Empfehlung von Maxi Lenz, der natürlich auch in den Club gehört und der an dieser Stelle etwas verpeilt zum 60sten von Love Parade Erfinder Dr. Motte aufdreht, einem weiteren Clubmitglied. Danke, Westbam! Einfach wie die Briten weiter Radau machen, dann passt schon alles.

Außerdem läuft:

Sleaford Mods – Seconds

Robag Wruhme – Frontex Frappant (auch hübsch: diese Bootsfahrt mit Robag)

Westbam/ML feat. Afterlife 3000 – White Boy (Percy Tech Remix)

Tyler, The Creator – Wilshire

Wanda – Die Sterne von Alterlaa

The Streets – Puzzled by People

Aphrodite’s Child – The Four Horsemen

Four Tet – Lush

Thom Yorke & Jonny Greenwood – The Rip (Portishead Cover)

Thom Yorke – Ladies and Gentleman, Thank You for Coming

Noel Gallagher — The Dying of the Light (Solo Acoustic)

The Field – Everybody’s got to learn sometime

Clark – Upward Evaporation

George Delerue – Jules et Jim: Brouillard

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ÉCRITURE AUTOMATIQUE (6)

Der Sinn von Träumen ist, dass man sich beim Schlafen nicht langweilt. Das ist alles. Max Goldt

Habe geträumt, dass der Postbote durch das Küchen-fenster mit mir spricht. Ich erkenne ihn an der Stimme, er sagt er habe alles auf den Tisch gelegt, es sei auch eine riesige Schnecke dabei, die Adresse stehe korrekt drauf, also bringe er sie vorbei. Offenbar ist er der Meinung, sie sei verloren gegangen. Ich bin irritiert, weil ich ihn trotz der durchsichtigen Fensterscheibe nicht sehe, und möchte vor die Tür gehen, um mit ihm zu sprechen. Aber die Stimme ist verstummt und ich zögere, ohne genau zu spüren, warum. Der Hintergrund ist real, der Postbote, der die Briefe meistens auf dem Terrassentisch ablegt, hatte erst neulich von der „fetten Schnecke“ in der Einfahrt erzählt, die er beinahe überfahren hätte. Im Traum jedenfalls gehe ich nach draussen und sehe nach: auf dem Tisch liegen mehrere Dutzend dicker Weinbergschnecken, auf allen ist die gleiche Adresse mit einem schwarzen Stift von Hand aufgetragen worden. Ihr Schleim überzieht schon alle Kanten, und es ist für mich unmöglich, den Tisch zu berühren. Aufgewacht.

 

OFFICE CHART FRÜHLING

Was wir in diesen Wochen im Büro hören

Jonny Greenwood – Phantom Thread (early)

Es ist nicht ganz klar, wer hinter Daniel Stashkin steckt. Sein YouTube Channel veröffentlicht so viele seltene, abseitige und inoffizielle Teile und Teilchen aus dem Radiohead-Universum, dass regelmäßig spekuliert wird, es handle sich in Wahrheit um ein Bandmitglied oder zumindest um den Produzenten Nigel Godrich, oder um alle gleichzeitig oder auch alle abwechselnd – irgendeiner aus dem Raum mit den herumliegenden Magnetbändern jedenfalls. Frühe Versionen, rumpelnde Krachorgien aus dem Übungsraum oder versunkene Solo-Perlen aus den abgelegensten Konzertorten des Planeten sind ebenso dabei wie beispielsweise ein alter zweiminütiger Wortbeitrag von Thom Yorke im Backstagebereich eines japanischen Konzerts, der auf gruselige Art zeigt, dass ihm auch leicht das Schicksal eines Kurt Cobain hätte blühen können (I will).

Dabei ist alles, was es hier zu sehen und zu hören gibt, angeblich vorher schon mal im Netz aufgetaucht, aber Stashkin hat es an einer Stelle versammelt und hübsch zurechtkuratiert, was damit so Nerd-allergischen Gestalten wie mir die stupide Perlentaucherei erspart. Ein gutes Dutzend Karma-Punkte sind ihm damit sicher. Auch Phantom Thread (early) war davor schon zu finden, aber nur auf den Extras der DVD zu Paul Thomas Andersons herzzerreissendem Film, und es ergänzt Greenwoods famosen Soundtrack um erste Aufnahmen, Übungen, Etüden – alles etwas rauher, verspielter, tastender, und noch ohne das Royal Philharmonic Orchestra, das sich aber schon im Nebenraum warm zu spielen scheint. Man spürt förmlich die Suche des Komponisten nach dem wahren Ton, dem richtigen Tempo, dem perfekten Anschlag. Alles mühelos und fliessend, als fläzte man mit Ravel und Debussy auf dem selben Sofa. Greenwoods vollkommen der Zeit entschwebtes Klavier funktioniert auch in diesem nur 17minütigen Fragment nach dem Aufwachen genauso wie kurz vorm Schlafengehen. Und erst recht, wenn Frühstück und Abendessen zeitlich mal die Plätze tauschen sollten.

Außerdem läuft:

Kitschkrieg feat. Peter Fox und Trettmann  – Lambo Lambo

DJ Hell – Black Disney @ Folklor Club Lausanne 2020 (3-Stunden-Stream)

Gesaffelstein – Pursuit

Thomas Fehlmann – Abgestellt

Slowthai feat. James Blake und Mount Kimbie – Feel away

Kate Tempest – I’m your Man (Leonard Cohen Cover) live

Mount Kimbie – Carbonated

Jamie XX – All under one roof raving

My Bloody Valentine – Only Shallow (remastered)

Haiyti feat. Kitschkrieg – Ein Messer

Yung Hurn/Love Hotel Band – Diamant

Yung Hurn – Gefühle an dich in einer Altbauwohnung (Part 2)

Marteria & DJ Koze – Paradise Delay

Kummer – Bei Dir

Led Zeppelin – Kashmir (Live from Celebration Day 2012)

Radiohead – The Headmaster Ritual/Ceremony/Unravel (The Smiths/New Order/Björk – Cover)

Jacques Brel – Voir un ami pleurer

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CONTAINER I/2021

In den Container wandern alle kleinen Begeisterungen der vergangenen Wochen

Neue Sachlichkeit (3)  „Da sieht man dann einen Schuhkarton, in dem eine Säuglingsleiche liegt. Dann kommt eine Fliege und setzt sich auf das Gesicht. Dieses Kommen und Gehen: faszinierend.“ Gerhard Polt über seine Kindheit

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Mont Saint Michel  Das erste Mal dass ich einen Erwachsenen Rotz und Wasser heulen sah, war am Mont Saint Michel in der Normandie. Die Zufahrt mit dem Auto zum Meereskloster war bei starken Gezeiten gesperrt, weil das steigende Wasser die Fahrbahn überflutete, man musste also rechtzeitig das Weite suchen. Der Mann, der weinte, war mit seinem Wagen unter der Brücke steckengeblieben und sah nun hilflos zu, wie sich in Zeitlupe das Salzwasser über die Ledersitze seines fabrikneuen Range Rovers ergoss. Die Tränen aus seinen Augen und das Sekret aus seiner Nase tropften dabei auf seinen Kamelhaarmantel, ich stand oben auf der Brücke, sah dem Nervenbündel aufmerksam zu und war etwa sechs Jahre alt. Ich war mir sicher, dass er Italiener war.

Mit der Würde dieser magnetischen Orte war es nie weit her, das gilt auch für Venedig oder den Taj Mahal. Die Sehnsucht nach ihrem Zauber verfliegt bei der Anreise sehr schnell, wenn man realisieren muss, dass eine gefühlte Million Menschen im selben Moment den gleichen Einfall hatten. Dass ausgerechnet eine Seuche ihnen diese Würde jetzt zurückschenkt, sieht man an diesem barocken Drohnen-Video, das im ersten Lockdown vor genau einem Jahr am Mont Saint Michel entstanden ist. Wenn statt eines endlosen Touristenstroms nur gelegentlich ein Vogel am heiligen Hügel aufsteigt und die gespenstischen Gassen aussehen wie aus einem Hollywood-Seuchenfilm, kehrt auch die Erhabenheit zurück, die so lange verschüttet war. Man musste einfach nur alle Menschen aus dem Bild nehmen.

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Spieltrieb  Ein Jahr ist es auch her, dass mir die Meldung gefallen hatte, die Firma Playmobil habe schnell umdisponiert und stelle jetzt eigene „Nase-Mund-Masken“ her. Als Filter konnte man „handelsübliche Papier-taschentücher“ einlegen, wovon auch gleich eine Gratis-Packung beigelegt sei – aus heutiger Sicht ein seltsam altertümlicher Lösungsansatz, ähnlich der Empfehlung, man solle zur Vermeidung eines Hausbrands einen Eimer Wasser in den Flur stellen. Dass damals ausgerechnet eine Spielzeugfirma schneller war als das überforderte Gesundheitsministerium, hat mich allerdings amüsiert, genauso wie das Darth-Vader-Design, das ich lizenztechnisch eher bei LEGO vermutet hatte, und von dem man annehmen durfte, dass es kein Erwachsener jemals ernsthaft tragen würde. Tat dann auch keiner, ich habe bis heute noch nie jemanden mit dieser Maske herumlaufen sehen. Aus dem Playmobil-Shop ist sie auch schon längst wieder verschwunden.

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Der Junge mit dem Edding (2)  Er nun wieder: mit dem schwarzen Filzstift als Privatknarre und Kommentier-Werkzeug in stets greifbarer Nähe, nutzt der Sohn den ausgelöffelten 99-Cent-Becher mit der Instant-Ramen-Suppe, um mir damit einen hübsch dekorierten Kaffee auf die Terrasse zu stellen. Auf mein Fragezeichen zur verkehrten Beschriftung auf der Rückseite sagt er nur: „Bei Starbucks schreiben sie die Namen immer falsch, das gehört so.“ Dass das stimmt, kann man mit diesem Blog leicht überprüfen, auf dem man interaktiv die seltsamsten Missverständnisse auf die Frage nach dem eigenen Namen nachschlagen kann („can i get a name for your order?“). Den von den meisten Kunden offenbar geschätzten Marketing-Bullshit global agierender Milliarden-Konzerne, mit eingefrorenem Lächeln ranschmeißerisch einen auf dufte zu machen, habe ich mir schon bei der Deutschen Telekom verbeten, als die plötzlich anfingen, mich im Schriftverkehr zu duzen. Dass ich auf das simple Ordern eines doppelten Espresso auch noch fünf präzisierende Nachfragen beantworten musste, hätte es bei meinem bisher einzigen Starbucks-Besuch in einer französischen Hafenstadt gar nicht mehr gebraucht, um den Kaffee in Zukunft nur noch in der Pinte nebenan zu trinken. Ging deutlich schneller, wurde mit indifferenter Laune erledigt, und meinen Namen wollte auch keiner wissen.

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Der immer noch traurigste Aufkleber auf deutschen Plakatwänden  >>

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Slowed  Irritiert und begeistert zugleich hat mich diese neue Tik-Tok-Mode unter Jugendlichen, bekannte Musikstücke „slowed“ zu hören, also in einer verlangsamten Version ihrer selbst. Sie laufen dann nur noch in 50 bis 80-prozentiger Geschwindigkeit, mit allen seltsamen Audioeffekten die das mit sich bringt. An den Stücken selbst wird nichts verändert, die entsprechenden Seiten auf YouTube vibrieren sozusagen gerade in Zeitlupe. Faktor Irritation: welcher rätselhaften Sehnsucht ist das geschuldet, dass man einen Gang runterschalten will und dafür die Werke anderer, die mutmasslich bei der Entstehung mit erheblicher Energie aufgeladen wurden, ohne zu zögern aufs preiswerteste herunterpitcht, statt etwas Neues zu entwerfen? Faktor Begeisterung: Power to the People! Wie man den Kommentaren unter den Videos entnehmen kann, gibt es in dieser Altersklasse nach wie vor ein geradezu pandemisches Bedürfnis nach Traurigkeit. Wenn die eigenen Lieblingslieder den Soundtrack dazu nicht vollständig liefern können, muss man halt selbst an die Regler, und was nicht leiert, wird leiernd gemacht. Sehr gelacht habe ich über eine slowed-Version von Bon Iver: ich dachte, die kann man auf keinen Fall mehr entschleunigen. Aber acht zwölf Millionen Aufrufe erzählen etwas anderes.

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Sonntagsblues  Mit ambivalenter Wucht hat mich ein knapp fünfminütiges Video getroffen, dass nur mit Musik unterlegt ein paar Filmszenen von Kubrick und Tarkovsky kommentarlos nebeneinander stellt. Stanley Kubrick, mit seiner technokratisch-unterkühlen Kunstaura gerne als linke Gehirnhälfte des Kinos bezeichnet, neben Andrei Tarkovsky, der mit seiner sowjetisch-emotionalen Aufladung die rechte Hälfte repräsentieren könnte. Das funktioniert fabelhaft, wenn Jack Nicholson in Shining durchs vollbesetzte Overlook-Hotel marschiert, während Oleg Yankovsky in Nostalghia allein mit brennender Kerze das leere Thermalbecken durchquert. Aber wenn der verzweifelte Barry Lindon neben dem weinenden Kind aus Iwans Kindheit zusammenbricht, und die Soldaten auf dem brennenden Schlachtfeld von Full Metal Jacket neben das flammende Haus in Der Spiegel gestellt werden, wachsen zwei Gehirnhälftn auch wieder zusammen und es geht nur noch um verwandte Seelen, nicht um ein dubioses Wettrennen konkurrierender Weltbilder. Ambivalent ist dabei, dass man sich als Unterhaltungsregisseur eingestehen muss, dass einen eigentlich nichts daran hindert, überflüssige Plot- und Dialogdekorationen zu streichen, den bebilderten Hörfunk sein zu lassen und nur der Schönheit den Vortritt zu geben – kein Gramm Fett mehr, nur Filet. So erging an einem verregneten Wochenende folgerichtig auch die traurige Notiz an mich selbst: „Show, don’t tell. Nicht wieder vergessen.“

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Neue Sachlichkeit (4)  „The brutality and low acting skills are unfortunate, but as a vision of the future and the relation between man and his destiny, the film is pushing the frontier of cinema as an art.“ Andrei Tarkovsky über James Cameron’s Terminator (1984)

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Haarmetall  Eddie van Halen ist tot, ich glaube das konnte man sogar durch die geschlossenen Fensterscheiben hören. Im Prinzip wäre mir die Nachricht aus dem letzten Jahr auch gleichgültig gewesen, aber Van Halen war mein erstes Konzert überhaupt, im Alter von 15 Jahren im Pariser Palais des Sports, und es passte eigentlich überhaupt nicht zum damaligen Mindset, wie man das heute nennen würde, das hauptsächlich aus einer hippiehaften Aura der Selbstgenügsamkeit bestand, und das mit diesem durchtrainierten Hair-Metal-State-of-Mind so ziemlich gar nichts am Hut hatte. Und trotzdem: das war heiss, aber nicht fettig. Und wo the fuck war nochmal die Scheiss-Eintrittskarte, die hatte ich doch aufgehoben? Jetzt ist sie wieder aufgetaucht, im dafür vorgesehenen Schuhkarton, was für eine kleine Begeisterung an dieser Stelle reichen muss, trotz anderer unerklärlicher Verluste, wie dem Hüsker Dü Ticket aus den Achtzigern, dem zum wegen Lebensmittelvergiftung von Morrissey abgesagten Smiths-Konzert oder dem letzten Nirvana-Auftritt überhaupt, im alten Münchner Flughafen. Was von Van Halen in Erinnerung blieb: Ein David Lee Roth in einem hautengen pinken Anzug mit weissen Fellstiefeln, der von einem Marshall-Boxenturm zum anderen dem Gitarristen Eddie die Jack Daniels Flasche zuwarf. „Seltsame Zeiten“, sagt der Sohn, als er das entsprechende Google-Foto sieht. Indeed.

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Neue Sachlichkeit (5)  „I tell everybody, if you want to run for office some day and have an incredible fundraising event, marry a musician about 15-20 years before you declare your candidacy“. Mary Mancini, Vorsitzende der Democratic Party in Tennessee, über ihren Mann, Lambchop-Sänger Kurt Wagner.

 

OFFICE CHART WINTER

Was wir in diesen Wochen im Büro hören

Haiyti – Influencer

Haiyti hätte ich fast verpasst, das wäre mir früher nicht passiert. Aber was soll ich machen, alles andere drängelt nach vorn, draußen wütet die Pest, drinnen auch, und dann kommt da noch dieser ermüdende Mob und schlägt die Fensterscheiben eines Parlamentsgebäude ein (Hintertür, Dienstboteneingang), überschreitet etwas planlos die gedachte mittelrote Linie, und macht dann nur ein paar erbärmlich-clowneske Selfies: Ich bin’s Hasi, sitze auf dem Drehstuhl von diesem Typen aus dem Fernsehen, kannst Du mich sehen (Grinse-Emoji)? Ich schmeiß’ noch schnell einen Papierstapel um, bin gleich wieder da!

Wir saßen jedenfalls vorm Fernseher und haben nur noch gelacht. Amüsantes Pack! Alle mit Samsung Galaxy im Hochformat, da braucht man zum halten nur eine Hand, mit der anderen kann man noch einen Teil von Nancy Pelosis Türschild nachhause tragen, oder irgendein herumstehendes Rednerpult (am nächsten Tag auf ebay). iPhone wäre auch zu teuer gewesen, das sah man schon an den schlechtsitzenden Tarnhosen, an denen hinten das Arschfax rausschaut: schnallt doch mal den Patronengurt enger, wie sieht das denn aus, ihr seid im Fernsehen! Und immer schön auf den roten Teppichläufern bleiben, beachten Sie bitte auch die Absperrkordeln. Aber warum nochmal wollt ihr denn den König retten, statt ihn zu köpfen, wie es früher gute französische Sitte war? Keine Antwort, keine Guillotine, hat also alles nur einen Tag gehalten, dann war’s wie gesagt ermüdend. Was das mit Haiyti zu tun hat? Die läuft im Hintergrund, wenn man gerade diesen kleinen Büro-Flow hat, insofern Danke für die Inspiration und liebe Grüße nach Hamburg! Wer zu faul ist, das komplette Album zu streamen: Ist ein bisschen wie Lady Gaga, der man das ganze Geld weggenommen hat. Also Gaga in gut und cheap. Und deep.

Außerdem läuft:

The Notwist  – Sans Soleil

Lana Del Rey – Chemtrails Over the Country Club

Bicep – Apricots

Burial + Four Tet + Thom Yorke – Her Revolution / His Rope

UNKLE – The Answer (Trentemœller Remix)

Bright Eyes – Poison Oak

Four Tet – 4T Recordings

Gael Faye – Métis

Olli Schulz und der Hund Marie – Der Moment

KennyHoopla – how will i rest in peace if i’m buried by a highway?

Eels – Earth to Dora

Kavinsky – Nightcall

David Bowie – Mother

Motörhead – Heroes (David Bowie Cover)

Thom Yorke – Dawn Chorus (Live at Montreux 2019)

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