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Kategorie-Archiv: hieß vorübergehend possible mood disorder

CONTAINER I/2020

In den Container wandern alle kleinen Begeisterungen der letzten Wochen

Neue Sachlichkeit (1)  Als entspannt pragmatisch und angenehm tröstlich wird von mir neuerdings der Einsatz von rudimentär-künstlicher Intelligenz am Handy empfunden. So vervollständigt die Autokorrektur von WhatsApp mittelkomplexe Begriffe innerhalb von einem Tag wie selbstverständlich von selbst, wenn man sie nur häufig genug eingegeben hat. Sowohl bei „Hirnblutung“ als auch bei „Intensivstation“ reichten bald schon die ersten zwei Buchstaben, um das gewünschte Wort als Vorschlag auf den Schirm zu kriegen.

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The Walking Dead  Ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine Serie über den Kampf gegen Untote zehn Staffeln lang nicht nur tragfähig sein könnte, sondern überhaupt erst dann alles über die condition humaine würde erzählen können – indem sie einfach die Überlebensmöglichkeiten nach einer Pandemie anhand sämtlicher historisch denkbaren Staats- und Gesellschaftsmodelle zwischen Monarchie, napoleonischer Isolation und KZ-Regiment in allen Mikro- und Makro-Formen durchdekliniert. Und das alles unter amerikanischen Genre-Bedingungen, also weltweit verständlich, dabei aber auch unter so neuen und unerwarteten dramaturgischen Gesetzmässigkeiten wie dem unaufgeregten Wechsel zwischen langen intimen Dialogpassagen und dem beherzten Rammen von rostigen Schraubenziehern in faulige Zombieschädel. Dieses lauwarme Blutbad war mir tatsächlich neu und kostet dreieinhalb Millionen Dollar pro Episode. Der Spaß ist aber erst rund, wenn man alle Folgen mit einer Fünfzehnjährigen guckt. (Netflix und Sky, freigegeben ab 18)

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Der Junge mit dem Edding  Wenn neben den kostenlosen Hotel-Schlappen auch ein herumliegender Edding zur Hand ist, hat der Sohn kein Problem damit, den allseits gewünschten Distinktionsgewinn einfach selbst herzustellen. Der Handmade-Effekt zerstört dabei zum Glück sofort die Ernsthaftigkeit des Anliegens, ich bin ja auch viel lieber mit einem Witzbold auf Reisen als mit Louis Vuitton persönlich.

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Neue Sachlichkeit (2)  “Marlon Brando told me that, because of his stomach, he had not seen his penis for seven years. I am a rather pragmatic person. I suggested he try using a mirror.” — Donald Sutherland (032c, unpublished interview intended for Issue 28)

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12ter März. Heute zum ersten Mal wieder den ganzen Tag keinen Kapuzenpulli getragen (Hoodie klingt mir zu versöhnlich), zum ersten Mal seit Abflauen dieses Winters, dem ersten in dem ich kein einziges Mal Schnee schippen musste und dem ersten, von dem ich dauernd sagen soll, was mir denn dazu einfiele. Nichts, ausser dass ich normalerweise nie wusste, wann er genau zu Ende ging, bei Träumen weiß man ja auch nie genau, wo sie angefangen und ob sie überhaupt aufgehört haben. Es war also der zwölfte Dritte, und wie immer, wenn etwas beschrieben wird das gerade vorbei ist, gibt es einen gewissen Anlaß zur Traurigkeit.

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BE  Ich habe Bernd Eichinger ein einziges Mal getroffen, auf dem Pausenflur bei ARRI in Schwabing. Ich hatte eine Tonmischung am einen Ende des Ganges, er schnitt den „Untergang“ am anderen. Es war eine denkbar kurze Begegnung, er stand mit Kaffee am Tresen, sah die angeknüllte Packung Camel ohne Filter in meiner Hand und meinte nur „endlich einer mit gscheiten Zigaretten, gib mir mal eine bitte“, worauf ich jene eine rausließ, mit irgendeinem gemurmelten „ist zwar die letzte, aber für Sie natürlich gerne“-Quatsch, was man halt so redet. Im Sinne seiner angenehm undeutschen Lebensleistung war das sogar aufrichtig, auch wenn mich eigentlich keiner seiner Filme wirklich begeistert hat, ausser dem „Bahnhof Zoo“ vielleicht, aber da war ich noch in einem zweistelligen Alter. Der gleichen Meinung ist mein Regie-Nachbar, der aber die Biographie empfahl und sie mir neulich auf den Terrassentisch gelegt hat. Mal sehen, ob Eichingers Frau die Fluppen-Story aufgegriffen hat. Ein bisschen gespannt bin ich schon.

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Neulich im Museum  Im Eingangsbereich des Haus der Kunst war schon vor den Kassen eine Installation aufgebaut, die mit einem luftig arrangierten Meer von aufgespannten Schirmen in Pop-Art-bunten Farben aus dem Vorraum eine wie hingetupfte Wolke entstehen ließ, die man als Besucher nur mit einem etwas umständlichen Zickzack-Kurs hinter sich lassen konnte, um in den seriös kuratierten Hauptraum mit aufwendig geklebten und montierten Collagen aus Afrika zu gelangen. Ein hübscher Kontrapunkt und gleichzeitig eine Art amüsantes Entrée, dass wohl die Ernsthaftigkeit der weiter hinten gezeigten Objekte ein wenig mit der sorglosen Schönheit dieser ‚objets trouvés‘ versöhnen sollte, die durch ihre bloße Präsentation automatisch eine Balance hergestellt haben, über die ich gerne gleich nochmal nachdenken würde, aber jetzt erstmal in die Cafeteria. Dort habe ich dann gemerkt, dass es einfach nur draussen regnet.

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OFFICE CHART WINTER (II)

Was wir diesen Monat im Büro hören

Mac Miller — Circles

Ich habe vor vielen Jahren mal begründen müssen, warum ich Gesang in einem bestimmten Musik-Zusammenhang ablehne, später hab ich das auf fast alle Zusammenhänge ausgeweitet. Die Beats und alle daran angedockten Mikrokosmen waren einfach fulminanter, maschinen-gemachte Schäbigkeiten willkommen, und alle Virtuosität aus menschlicher Kehle war eine Idee wie aus dem 19ten Jahrhundert: man roch förmlich die Bühnen-Schminke und hörte das Rascheln der Rokoko-Kleider auf der Suche nach dem hohen C. Aber dann kamen erst Thom Yorke und jetzt Mac Miller durch die Tür und haben mich daran erinnert, warum eben doch die Stimme als Botenstoff für Emotion erlaubt sein darf, wie jedes andere Instrument auch. Sie muss nur so klingen wie sich dieser Moment kurz vor dem Aufprall anfühlt, bei dem eine fremde Macht dafür sorgt dass der Sturz unmittelbar vor dem Boden endet und einen ein seidener Faden unsichtbar in der Schwebe hält und wieder aufrichtet, ohne dass die Füße dabei den Boden berühren müssen. Alles in Zeitlupe, versteht sich. Das gelingt herzerwärmend bei Hands, und niederschmetternd bei I Can See oder Once a Day.

I spent the whole day in my head / do a little spring cleanin / I’m always too busy dreamin, und genauso ist es ja auch, bekanntlich gibt es Jahrhunderte, da bleibt man besser im Bett. Mac Miller ist aus seinem nicht mehr aufgestanden, seine Familie hat das Album jetzt posthum veröffentlicht, sein Produzent die angefangenen Songs fertig gemischt und schönstens in Form gebracht. Circles, hier in ganzer Länge zu hören, ist wie die noch warme Decke eines Freundes, der gerade erst durch die Tür verschwunden ist, einem Phantom, dass nie wiederkehren wird, Aber wer sich darin einwickelt, dem wird es da draussen auch nie wirklich zu kalt werden.

Außerdem läuft:

Mac Miller – Nikes on my Feet

Lyle Mays (+) – Close to Home

Leon Vynehall – Midnight on Rainbow Road (hier auch mit Beat)

Chaos in the CBD – Midnight in Peckham

Billie Eilish – No Time To Die

Bee Gees – Living Eyes

Seeed – Aufstehn

Rammstein – Diamant

Lindemann feat. Haftbefehl – Mathematik

Jon Hopkins & Kelly Lee Owens – Luminous Spaces (Edit)

Tarek KIZ – Ticket hier raus

Goldroger — Potion

Kummer feat. Max Raabe – Der Rest meines Lebens

Trentemøller – Never Fade

alt-J – Hunger of the Pine (MOTSA Re-Groove)

Kings of Convenience — The Weight of my Words (Four Tet Remix)

Cleo Sol – Butterfly

Father John Misty – Hollywood Forever Cemetery Sings

PNL – A l’Ammoniaque

OrelSan – Tout va bien

Underworld – Banstyle/Sappys Curry (Remastered)

Pixies – Havalina

Dylan Thomas – Better Oblivion Community Center

Nino Rota — Tre Passi nel Delirio (Toby Dammit)

Mac Miller – Come back to Earth

Die Links führen in der Regel zu sehenswerten Videos auf vimeo oder youtube und gehen in einem neuen Fenster auf.

 

OFFICE CHART WINTER

Was wir diesen Monat im Büro hören

Lana Del Rey — Norman f*****g Rockwell!

Ich habe schon gar keine Lust mehr auf ein Lob der Oberfläche, und Lana Del Rey ist ja auch nur ein Beispiel, aber da draussen plappern zuviele tagein, tagaus immer noch den gleichen hohlen Quatsch nach, den ihnen die elitär-steilen, von keiner persönlichen Tiefen-Erfahrung getrübten Pressesprecher des angeblich „Echten“ wieder und wieder diktieren, Authentizität als Wert an sich, irgend so ein Blut-Schweiß-und-Tränen Ding, anstatt endlich zu begreifen, dass Pop unvollständig ist, wenn ihm eines der Elemente fehlt, das Bild, die Idee, der Text, das Geräusch, das Körpergefühl, die Erinnerung, die Euphorie, das Make Up und das Senden und Empfangen dieser ganzen Zusammenhänge, dass es da beim „ausdrucksstarken“ Schrammel-Blues auf einem Kneipenhocker nicht soviel zu holen gibt und dass nichts gewonnen ist, nur weil ein Shirt ordnungsgemäss durchgeschwitzt wurde und ein Instrumentalist erst dann scheinbar alles gegeben hat, wenn man die Virtuosität, die sich stundenlangem Üben von Tonleitern in fernen Kindertagen verdankt, stets zwischen den Zeilen mitschwingen hört, vorher gilt es nicht, und so sprach neulich schon wieder einer, bei Ego FM, die Sendung heisst „Die Vermessung der Musik“, aber der Moderator vermaß nur ganz kurz und wenig und verglich eine israelische Sängerin (Name vergessen) zunächst mit Lana Del Rey, aber dann eben doch nicht, denn die sei ja „nur ein Produkt“, und man steht in der Küche und denkt sich „Was denn sonst, Du F*****kobold?“, und dass „keine Inszenierung“ die banalste und blutleerste Inszenierung von allen ist, es kommt eben immer noch drauf an, wie die Künstlerin die ganzen Koordinaten dieser artifiziellen Kosmen organisiert, arrangiert und präsentiert, die Videos mit den fiberglasigen Alligatoren im Pool, das kalifornische Ding, geboren aus dem Klima, der Gischt und der (untergehenden) Sonne, mit graubärtigen Männern, die Lana auf der Harley mitnehmen, ihre Girls auf der Pritsche des Pick-Ups, gefilmt in dieser verwaschenen Super-8-Optik, die früher einfach Vintage war, dann völlig uncool, heute wieder schön, ich will sie sehen wie sie mit The Weeknd auf dem Hollywood-Sign herumtanzt, dieses ganze unschuldig unentschiedene Mädchending, zwischen Lolita-Smile, Boyfriend-Style und Spritzbesteck, das nur funktioniert, weil diese Stimme so stilsicher zwischen Kunst und Kitsch unterscheidet und so haarscharf an der Kante zum leiernden Gelangweiltsein herumbalanciert, ohne je abzurutschen, dabei sprachlich immer die attraktivsten Bilder entwirft, Oh God, miss you on my Lips / It’s me, your Little Venice Bitch, Will you still love me when I’m no longer young and beautiful?, I’m in Love with a Dying Man, You’re so Art Deco, es geht um dunkle Paradiese und 13 Strände, von denen erst der letzte menschenleer war, um Videogames und Ultraviolence, und wer Elisabeth Grant hinter diesen Dutzenden von Codes, Splittern und schönen Fassaden tatsächlich ist, geht nur ihre Familie und ihre nächste Umgebung etwas an und interessiert mich also einen fetten Scheiss. Welchen Mehrwert dagegen irgendeine Illusion von Authentischem haben soll, wird mir hoffentlich für immer ein Rätsel bleiben.

Zum aktuellen Album ist noch zu sagen: Es gibt nichts Neues in diesem Kosmos, Gott sei‘s gedankt. Nur die wiederholte Verstofflichung dieses einmaligen Klangbildes in diese eine Substanz, die Del Rey selbst mal als Songtitel gewählt hat, giftig und gefährlich, und dann wird man auch noch abhängig davon: f*****g Heroin. Was für ein schönes Produkt diese Platte ist, ich kann mich kaum sattfühlen daran.

Außerdem läuft:

Digitalism – Wish I was There

Dagobert – Du und Ich

Goldroger — Halt

Trettmann — Das hätten wir sein können

PNL – Au DD

OrelSan – Basique

EOB (Ed O’Brien) – Brasil

Element of Crime — Wenn der Morgen graut

Wolf Mountains – Coyote

Radiohead – Ill Wind (Version)

Tame Impala – It Might Be Time

Goldroger – Lavalampe Lazer

The Lumineers – My Cell

Frank Ocean – Moon River

Lomepal – Yusuf

Yves Montand – Battling Joe

Françoise Hardy & Iggy Pop – I’ll be seeing you

Iggy Pop – Les Feuilles Mortes (Live @ France Inter)

Thom Yorke – Last I Heard (… He was circling the Drain)

Nick Cave and the Bad Seeds – Ghosteen (Global Premiere)

Vicky Leandros – Ich liebe das Leben

Digitalism – Infinity

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OFFICE CHART SOMMER

Was wir diesen Monat im Büro hören

Elliott Smith — Heaven adores you Soundtrack

Morbide Kinderspiele: alle Möglichkeiten aufzulisten, mit denen ein Mensch wohl Selbstmord begehen könnte. Einen Bauchgürtel in die Luft jagen, bestückt mit einer Jahresproduktion an Silvesterknallern? Großes Gelächter. Vom obersten Stock des Hauses direkt in einen Swimmingpool voller Todesquallen springen? Na klar, geht. Eine der Möglichkeiten war dabei immer ausgeschlossen – sich selbst zu erstechen, das schien kaum möglich. Kein Mensch würde je sowas schaffen, da waren sich alle einig. Es flog aus der Liste.

Der Zufall, diesmal in Form eines Tippfehlers, hat mir vor zwei Wochen Elliott Smith aus den mittleren Tiefen der Festplatte zurück ins Büro gespült und dann nicht mehr aus der Tür gelassen. Heaven adores you ist der Soundtrack zu einem Dokumentarfilm über Smith, der Teil des Albums, den ich damals heruntergeladen hatte, ist gerade mal 16 Minuten lang, kannte nur fünf Stücke, von denen vier sogar ohne Gesang ausgekommen sind (komplett ist es eine Stunde länger). Keines der Stücke ähnelt den Liedern, für die Smith zunächst eine kleine, innig liebende Gemeinde (Portland/Oregon), später eine sehr viel größere hinter sich versammeln konnte (Brooklyn/Los Angeles/und damit überall).

Kein Needle in the Hay, das Johnny Depp einen ganzen Spielfilm-Dreh lang im Kopf herumgeisterte, wie er mal auf der Bühne erzählte; kein Between the Bars, von dem Madonna in einem Interview sagte, sie träume manchmal, sie hätte es selbst geschrieben; keine Miss Misery, die im Abspann von „Good Will Hunting“ zu hören war, was dem Lied eine Oscar-Nominierung und dem depressiv-multitoxomanen Interpreten einen Live-Auftritt bei der Verleihung bescherte, den er sogar unfallfrei und im Stehen über die Bühne brachte.

Dafür bekommt man hier Fragmente und Demos, die so klingen als wären sie am Lagerfeuer improvisiert (oder zumindest in einer Lagerhalle an einem Feuer) – eine Gitarrenübung, Untitled Guitar Finger Picking, wie ersonnen von einem begabten Musikschüler, zwei instrumentale Etüden, einen von mehreren Walzern (Waltz #1), in der längeren Version auch ein paar unveröffentlichte Live-Auftritte. Das klingt trotz einer fast kindlichen Leichtigkeit als wären diese Stücke schon bei der Entstehung direkt in Beton gegossen worden – mit großen Luftblasen darin, an denen aber auch sein Blut klebt.

Im Oktober 2003 hat sich Elliott Smith selbst erstochen, zweimal hintereinander sogar. Die Polizei konnte das auch nicht glauben und untersuchte den Fall, man einigte sich später auf die Todesursache „nicht feststellbar“, damit ist es bis heute kein Suizid. Aber wie jeder Tatortreiniger weiß, bleibt nach der Entfernung der Blutlache immer noch ein Schatten auf dem hellen Teppich zurück, und damit auch über Elliott Smith‘ Musik, die davon allerdings nichts weiß und deshalb auch weiterhin gut mit diesem Schatten wird weiterleben können.

Außerdem läuft:

Trettmann – Intro

Wanda – Ciao Baby

Lana Del Rey – Doin‘ Time

Jan Blomqvist – Synth for the Devil

Bilderbuch – Mein Herz bricht

Frittenbude – Die Dunkelheit darf niemals siegen (feat. Jörkk Mechenbier)

Die Höchste Eisenbahn – Kinder der Angst

Apparat – Heroist

Coma – Sum

Sufjan Stevens – Chicago

Talking Heads – This must be the Place (Naive Melody) (2005 Remaster)

Nico – The Fairest of the Seasons

The Black Dog – Ghost Vexations

Benjamin Biolay – Des lendemains qui chantent

Roman Flügel – 9 Years (DJ Koze Remix)

Sensorama – Harz (Born Under A Rhyming Planet Remix)

Elliott Smith – Angeles

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RAMMLIEDER



Meine liebste Einstellung im „Deutschland“-Video von Rammstein zeigt die Häftlinge des Konzentrationslagers, wie sie in plötzlicher Umkehrung der Situation die Gewehre anlegen und wiederum ihre Nazi-Schergen töten. Dass sie dabei nicht verschämt und vergleichsweise heroisch ins Herz treffen, sondern den Schrot mitten ins Gesicht ihrer Peiniger schiessen, hat mir gut gefallen. Ebenso wie die Tatsache, dass beide Seiten von den Musikern der Band dargestellt werden, was die Idee der Ambivalenz unterstreicht, für die die Band verlässlich garantiert wie kein anderes Kunst-Kollektiv in ihrer mutlosen, traurig ambivalenzfreien Heimat.

    

Meine liebste Einstellung im „Radio“-Video von Rammstein lässt Till Lindemann für einen kurzen Augenblick selbstvergessen in die Ferne schauen, mit einem Blick, der mich an etwas erinnert: auch in Tchao Pantin („Am Rande der Nacht“), dem französischen Film Noir von 1983, wechselt Coluche für einen kurzen Moment den Ausdruck in seinen Augen und erzeugt damit ein fast schon ikonisches Abbild seines Gesichts, randvoll mit Melancholie und Gleichgültigkeit gegenüber einer Zukunft, die für ihn nichts mehr bereitzuhalten scheint. Das bezieht sich wohl in erster Linie auf den Tankwart Lambert, den er bei Claude Berri zu spielen (und zu überwinden) hatte, aber Coluche stiess dann tatsächlich mit seinem Motorrad frontal und ohne Helm in einen Lastwagen und starb. Lindemann hingegen füllt im Augenblick die Stadien aller deutschen Grossstädte. Hier hat sich der Gedanke der Ambivalenz selbständig gemacht und greift in Bereiche ein, die niemand unter Kontrolle haben kann und die undurchschaubar bleiben müssen. Es ist seltsam beruhigend und beunruhigend zugleich, dass es möglich ist, von der Kunst darauf gelenkt zu werden.